Eine Elterninitiative als Motor der Forschung

Dr. Julia Matilainen, Sohn Linus, PCH-Familie e. V.

Dr. Julia Matilainen ist Wissenschaftlerin im Bereich Pharmazie. Sie promoviert zu Arzneimitteln für seltene pädiatrische Erkrankungen und ahnt damals nicht, dass ihre wissenschaftliche Expertise einmal so persönlich relevant werden würde.

2017 kommt Sohn Linus zur Welt. Früh ist klar, dass neurologisch etwas nicht in Ordnung ist. Dank einer guten Kinderärztin sowie einem erfahrenen Chefarzt in der Neuropädiatrie ist nach zwei Monaten klar, dass Linus die Seltene Erkrankung Pontocerebelläre Hypoplasie (PCH) Typ 2 hat – eine Diagnose, die die Familie zunächst einmal in einen Schockzustand versetzt. Bei der Erkrankung ist das Kleinhirn nicht richtig ausgebildet und sie führt, wie Julia Matilainen erklärt, zu einer Schwerst- Mehrfachbehinderung mit eingeschränkter Lebenserwartung. Kinder sind in ihrer gesamten Motorik eingeschränkt, können weder sitzen noch laufen oder greifen. Es gibt Schwierigkeiten beim Schluck- und Kauvorgang, bei der Atmung, der

der Temperatursteuerung und mit sich später einstellender Epilepsie. Und damit sind nur einige Symptome benannt. Die Seltene Erkrankung ist hoch beobachtungs- und pflegeintensiv, da die Kinder zu jedem Zeitpunkt in einen lebensbedrohlichen Zustand kommen können. 

Julia Matilainen geht in die Offensive und erfragt mögliche Studien, an denen Linus teilnehmen könnte. Die Antwort ist für sie unbegreiflich, gerade im Hinblick auf den heutigen Stand im Bereich der Gentherapien: Zu PCH gebe es weder Forschung noch Studien. Lediglich die Symptome könne man behandeln.

"Im Alltag sind die Experten die Eltern"

Auf der Suche nach Antworten und Unterstützung trifft die junge Mutter/die Wissenschaftlerin auf den Verein PCH-Familien e. V. und Dr. Axel Lankenau, selbst Vater von zwei betroffenen Kindern, für den unter anderem die Erforschung der Krankheit seiner Söhne eine Herzensangelegenheit geworden war. „Man steht auf Schultern von Riesen. Im Alltag sind die Experten die Eltern“, beschreibt Julia Matilainen die Bedeutung der Elterninitiative. Durch die geteilte Erfahrung können viele Fehler vermieden, Kämpfe gemeinsam gefochten und Ärzte mit Experten verknüpft werden. Ein Anliegen, dass die Patientenorganisationen unter dem Dach der ACHSE teilen.

Und dann geht alles ganz schnell. Dank ihrem pharmazeutischen Hintergrund fällt es Julia Matilainen nicht schwer konkrete und realistische Ziele für die so nötige Forschungszusammenarbeit zu formulieren sowie mit den Wissenschaftlern und Forschenden auf Augenhöhe zu diskutieren. Die Familien der Elterninitiative arbeiten eng zusammen und sammeln nicht nur das nötige Geld für die Anschubfinanzierung. Sie übernehmen auch das komplette Projektmanagement, geben eine Struktur vor: Themenvorgaben, monatliche Calls, Arbeitspakete, Agenda, Planung. Kurz: sie werden Kümmerer und Organisatoren. Die Patientenorganisation ist der Motor, der alle zusammenbringt und alles am Laufen hält.

Wie das neben der Pflege und dem Beruf möglich ist? Nur mit unglaublicher Unterstützung ihres Mannes und einer guten Aufteilung sowie vielen Abenden und Wochenenden, an denen andere Hobbies weichen müssen. Erschwert wird die Arbeit durch zermürbende Kämpfe um nötige Hilfsmittel, doch auch durch die immer schwerer werdende Suche nach Pflegekräften. Fachkräftemangel sowie immer höhere Anforderungen an das Pflegepersonal lassen das durch die Familien akribisch aufgebaute Pflegegerüst gefährlich wackeln. Wo früher angelernte Kräfte unterstützt haben, muss jetzt eine Intensivpflegekraft angestellt werden. Findet man keine, fällt die pflegerische Unterstützung ganz weg. Julia Matilainen und Axel Lankenau setzen sich gemeinsam mit dem Verein PCH-Familien e. V. dafür ein, dass eine ausreichende Versorgung auch in Zukunft gewährleistet werden kann und betroffene Familien dank Forschung auf Therapien hoffen können.

Eva Luise Köhler Forschungspreis und Förderzusage Chan Zuckerberg Initiative

Und das große Engagement zahlt sich aus. Mit Dr. Simone Mayer, die seit 2018 die unabhängige Arbeitsgruppe „Molekulare Hirnentwicklung“ am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen leitet, werden große Fortschritte in der Grundlagenforschung gemacht. Ihr Ziel ist es, mithilfe von stammzellbasierten Modellen wie den Organoiden, Entwicklungsstörungen des Gehirns auf molekularer und zellulärer Ebene zu verstehen und als Grundlage für Präventions- und Therapieentwicklungen zu nutzen. Dafür bekamen Dr.Julia Matilainen, Dr. Simone Mayer und Dr. Axel Lankenau nicht nur den Eva Luise Köhler Forschungspreis. PCH-Familie e. V. erhielt als einziger deutscher Verein die Förderzusage durch die Chan Zuckerberg Initiative für Forschungsprojekte im Bereich Seltene Erkrankungen.

Um eine sehr Seltene Erkrankung besser zu verstehen, braucht es neben Zeit und Geld vor allem Vernetzung zwischen Betroffenen und Forschenden. „Julia Matilainen, Axel Lankenau und die anderen engagierten PCH-Familien machen sich neben ihren Aufgaben in der Pflege ihrer Kinder mit viel Zeit und Energie für mehr Austausch und Forschung stark. Und mit Dr. Simone Mayer treffen sie auf eine Forscherin, die die Expertise der Familien wertschätzt und in ihre Arbeit einbezieht. Hier wird beeindruckend deutlich, was ein enger Schulterschluss im Bereich der Seltenen Erkrankungen bewegen kann!" So würdigte Eva Luise Köhler das Engagement der Forschungspreistragenden.

PCH-Familie e. V.

Auf ungefähr 1 Mio. Menschen kommt in Deutschland ein Kind mit einer sogenannten Pontocerebellären Hypoplasie (PCH) Typ 2. Die mittlere Lebenserwartung liegt bei wenigen Jahren. Die Erkrankung ist durch schwerste Beeinträchtigungen gekennzeichnet: neben einer schweren Entwicklungsstörung machen die ausgeprägte Bewegungsunruhe und extreme Irritabilität sowie die ständige Gefahr von lebensbedrohlichen Komplikationen die PCH2 zu einer der pflegeintensivsten neurologischen Erkrankungen.

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