COVID-19: Impfung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen und ihre Angehörigen

Brief der ACHSE an die Ständige Impfkommission, den deutschen Ethikrat sowie an die Nationale Akademie der Wissenschaften - 19. November 2020

Sehr geehrte Damen und Herren der Ständigen Impfkommission, des deutschen Ethikrates und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina,

eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern Ihrer Organisationen hat ein Positionspapier zu der Frage „Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt werden?" verfasst. Wir möchten Sie für Ihre zukünftigen Beratungen und Empfehlungen an Entscheidungsträger auf die Situation von Menschen mit Seltenen Erkrankungen aufmerksam machen.

Die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. ist der Dachverband von Menschen mit Seltenen Erkrankungen. Mit mehr als 130 Mitgliedsorganisationen gibt der ACHSE e. V. etwa 4 Millionen Menschen die mit einer der etwa 8.000 Seltenen Erkrankungen leben eine starke Stimme. Seltene Erkrankungen sind zu einem großen Teil genetisch bedingt, sie sind in der Regel unheilbar und gehen regelmäßig mit großen Einschränkungen und nicht selten mit einer verkürzten Lebenserwartung einher.

Viele Menschen mit Seltenen Erkrankungen bewegt die Frage, ob sichergestellt ist, dass sie selbst und ihre pflegenden Angehörigen zeitnah Zugang zu einem Impfstoff haben werden, wenn dieser zugelassen worden ist. Nicht alle Betroffenen einer Seltenen Erkrankung gehören automatisch zu den Risikogruppen und viele wollen auch nicht dazu gerechnet werden, auch weil diese Zuschreibung für andere Fragen Konsequenzen hat, z.B. kann mein Kind am Präsenzunterricht teilhaben, darf ich von zuhause arbeiten?

Menschen mit Seltenen Erkrankungen, die meisten von ihnen Kinder, werden außerdem von ihren Angehörigen gepflegt. Diese sollten nicht schlechter gestellt sein dürfen, als die professionellen Pflegekräfte. Die pflegenden Angehörigen haben Angst, dass sie die zu Pflegenden mit dem Virus anstecken.

Beispiel einer Betroffenen

Am Beispiel von Andrea B. möchten wir Ihnen verdeutlichen warum es sehr wichtig ist, dass diejenigen, die geimpft werden wollen, auch zeitnah Zugang zu einer Impfung erhalten.
Andrea ist 34 Jahre alt und ca. 1,15m groß, sie leidet seit Geburt an der Mukopolysaccaridose Morquio Typ A, einer Stoffwechselerkrankung des Bindegewebes (Knorpel, Knochen, Sehnen). Durch einen Enzymdefekt in den Zellen kommt es zur Anhäufung von Zellprodukten, die die Zelle schädigen. Als Folge des Defekts ist Andrea kleinwüchsig, ihr Brustkorb und ihre Wirbelsäule sind so betroffen, dass ihre Lunge stark eingeengt und durch eine Überbeweglichkeit ihrer Halswirbelsäule das Risiko einer Querschnittslähmung immer gegeben ist. Daher darf ihr Kopf bei einer Beatmung nicht überstreckt werden. Nur einige wenige Spezialkliniken haben mit diesen lebensgefährlichen Risiken, die schon bei normalen Operationen eintreten, Erfahrung. Andrea hat somit bei einem schweren Krankheitsverlauf mit COVID-19, der eine Intubation erfordert, so gut wie keine Überlebenschance. Daher wird sie auch seit März 2020 weitgehend von ihrer Umwelt isoliert. Sie können sich vorstellen, was der fast gänzliche Verzicht auf menschliche Kontakte für ihre Lebensqualität bedeutet. Sie verstehen, dass die Impfung für ihre Lebensqualität daher von besonderer Bedeutung ist. Erst wenn sie geimpft worden ist, kann sie wieder richtig am Leben teilhaben.

Menschen mit Seltenen Erkrankungen angemessen versorgen

Wir bitten Sie, Menschen mit Seltenen Erkrankungen und ihre pflegenden Angehörigen eine Priorität, wie sie auch anderen Risikopatienten zugedacht ist, bei der Vergabe der Impfstoffe einzuräumen. Es ist nicht wahrscheinlich, dass eine überdurchschnittliche Prozentzahl der Betroffenen eine Impfung haben möchte.

Gerade bei Seltenen Erkrankungen wird es so bald keine verlässliche Evidenz darüber geben, wie die Gefahren einer Corona-Infektion für Betroffene einer bestimmten Seltenen Erkrankung sind. Dies gilt auch für die Impfung. Erwachsene Betroffene, aber insbesondere auch Eltern, sind es aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen gewohnt, Entscheidungen treffen zu müssen, während es zu wenig Wissen über die möglichen Folgen einer solchen Entscheidung gibt. Unserer Einschätzung nach werden auch sehr viele Betroffene wegen der ungeklärten Situation für ihre Erkrankung gerade keine Impfung wollen.
Auszudifferenzieren, wer von den Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu den Risikogruppen gehört, wird nicht oder kaum möglich sein. Evidenz kann zu dieser Frage momentan schwer gesammelt werden und aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen würde es sehr lange dauern, bis man verlässliche Erkenntnisse hat. Bei manchen Erkrankungen, wie z.B. Mukoviszidose, liegt es sehr nahe, dass sie zu den Risikogruppen gehören, bei anderen weniger. Menschen, die mit der gleichen Erkrankung leben, können außerdem unterschiedlich schwer betroffen sein und auch subjektiv das Risiko für sich unterschiedlich betrachten.

Gesellschaftliche Debatte und Transparenz über Vorgehen ist notwendig
Dass die Verteilung der Impfstoffe sowohl ein gigantisches logistisches als auch ethisches Problem ist, bei der die nicht einfach vergleichbaren Bedürfnisse von verschiedenen Gruppen und die Interessen der Gesellschaft abgewogen werden müssen, ist uns klar. Wir würden deshalb eine Beratung und Entscheidung über eine Nationale Impfstrategie im Deutschen Bundestag sehr begrüßen. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Konsens oder zumindest Transparenz über die getroffenen Abwägungen.

Gerne stehen wir Ihnen und allen anderen Beteiligten bei Fragen, auch unter Einbindung unseres großen Netzwerkes aus medizinischen Experten, für Beratungen zur Verfügung. Bitte wenden Sie sich dazu an unsere Ärztin, Frau Dr. Christine Mundlos, Stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin ACHSE Wissensnetzwerk und Beratung. Gute Informationen über Seltene Erkrankungen und das verfügbare Wissen in Zusammenhang mit COVID-19 erhalten Sie unter anderem über www.orphanet.de und www.eurordis.org/covid19resources.

Wir wünschen Ihnen an Ihrer für das Gesundheitswesen wichtige Arbeitsstelle viel Kraft und Erfolg. Passen auch Sie auf sich auf und bleiben Sie gesund.

Mit freundlichen Grüßen,

Mirjam Mann
Geschäftsführerin ACHSE e.V.

Dr. Christine Mundlos
Stellv. Geschäftsführerin ACHSE e.V.

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