Berlin, Februar 2017 - Für die Entwicklung eines neuartigen stammzellbasierten Modellsystems zur Erforschung des Phelan McDermid Syndroms (PMS), einer seltenen neuronalen Entwicklungsstörung, erhält ein Team von Grundlagenwissenschaftlern und klinisch tätigen Ärzten aus Ulm und Magdeburg den mit 50.000 Euro dotierten Eva Luise Köhler Forschungspreis 2017. Um die Erkrankung in dem von Prof. Dr. Dr. Michael Schmeißer konzipierten Projekt möglichst realitätsnah studieren zu können, werden zu Stammzellen reprogrammierte Körperzellen verwendet. Aus diesen sollen winzige Organstrukturen gezüchtet werden, die Zellverbänden aus dem menschlichen Hirn ähneln. Da diese sogenannten zerebralen Organoide den gleichen Gendefekt aufweisen, der bei den Betroffenen zum PMS führt, erhoffen sich Ärzte, Wissenschaftler und Patientenvertreter von der nun geplanten molekularen Charakterisierung dieses neuartigen humanen Modellsystems wichtige Ansatzpunkte für künftige Therapien.
Eva Luise Köhler, die Gattin des Bundespräsidenten Horst Köhler, wird die Nachwuchswissenschaftler am 1. März im Anschluss an das diesjährige Symposium zum „Tag der Seltenen Erkrankungen" in Berlin auszeichnen. Der Forschungspreis der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung wird in Zusammenarbeit mit der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e. V. zum zehnten Mal vergeben.
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Das Phelan McDermid Syndrom (PMS), das mit autistischen Verhaltensweisen, Intelligenzminderung, Muskelschwäche und Epilepsie einhergehen kann, ist eine genetisch bedingte Netzwerkstörung des Gehirns, die sich während der neuronalen Entwicklung ausbildet und bereits im frühen Kindesalter zu Symptomen führt. Ursächlich scheint eine Mutation des SHANK3-Gens zu sein. Diese führt – so konnte Prof. Schmeißer an der Universität Ulm in Zusammenarbeit mit seinem Mentor und Entdecker der SHANK-Gene Prof. Dr. Tobias Böckers im Mausmodell nachweisen – zu definierten molekularen Veränderungen wie z.B. zu einer Fehlregulation des mGluR5-Signalwegs in bestimmten Hirnregionen.
Zerebrale Organoide aus der Zellkultur dienen als humanes Modellsystem
Mit dem Forschungsgeld der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen soll untersucht werden, inwieweit das innovative Krankheitsmodell hilfreich ist, neue Ansatzpunkte für künftige Therapien zu finden. „Spitzenforschung kann heutzutage nur als Teamwork gelingen", erläutert Prof. Schmeißer und erklärt: „Aufgrund der Komplexität der Materie und des rasanten Wissenszugewinns müssen Grundlagenforscher verschiedener Disziplinen und klinisch tätige Ärzte eng zusammen arbeiten, um für die Patienten gemeinsam Erfolge zu erzielen."
So arbeiten etwa bei der Gewinnung des Ausgangsmaterial für die Organoide Neurowissenschaftler und Stammzellforscher Hand in Hand: Die durch künstliche Reprogrammierung von Körperzellen erschaffenen "induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS)", haben die Fähigkeit zurückerlangt, sich wie embryonale Stammzellen in sämtliche Zell- oder Gewebetypen differenzieren zu können. Um standardisierte Bedingungen zu schaffen, nutzen die Stammzellforscher dabei iPS-Zellen gesunder Spender, denen das SHANK3-Gen zunächst per CRISPR-Cas „Genomchirurgie" entfernt wurde. So kann der Gendefekt, der beim Menschen zu PMS führt, nachgestellt werden, während gleichzeitig gesundes Vergleichsmaterial vorhanden ist.
Im nächsten Schritt sollen aus den genetisch modifizierten iPS-Zellen winzige, ca. 3-4 mm große organähnliche Strukturen hergestellt werden, die Zellverbänden aus dem menschlichen Hirn ähneln. Binnen eines Jahres soll so ein humanes Modellsystem entstehen, an dem das komplexe biochemische Zusammenspiel in den betroffenen Nervenzellen auf molekularer Ebene umfassend analysiert werden kann.
Da die Organoide den gleichen Gendefekt aufweisen, wie er bei Patienten mit PMS auftritt, hoffen Wissenschaftler und Patientenvertreter dabei auf völlig neue Einblicke in die Erkrankung. „In nicht allzu ferner Zukunft untersuchen wir molekulare Prozesse in einem humanen hirnähnlichen Modellsystem – fast so, als hätten wir das erkrankte Hirngewebe in die Zellkulturschale gebracht" zeigt sich Prof. Schmeißer begeistert.
Ursachen von autistischen Verhaltensweisen und Intelligenzminderung auf der Spur
Durch die zielgerichtete Charakterisierung der zerebralen Organoide soll überprüft werden, ob die bereits im Mausmodell identifizierten Veränderungen auch im humanen Modellsystem nachzuweisen sind. „Maßgeblich ist für uns dabei die Frage, welche Therapieoptionen sich daraus für PMS-Patienten, aber auch für andere Betroffene mit ähnlichen Krankheitsbildern ergeben könnten," erläutert der Arzt und Wissenschaftler und ergänzt: „Die genetischen Ursachen des Phelan McDermid Syndroms weisen darauf hin, dass man das Syndrom als seltene Modellerkrankung verstehen kann, aus der man allgemeingültigeres Verständnis für Autismus und Intelligenzminderung ableiten kann."
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael J. Schmeißer (*1983 in Kempten/Allgäu) studierte von 2002 bis 2009 Humanmedizin an der Universität Ulm und promovierte 2010 zum Dr. med. Anschließend absolvierte er ein naturwissenschaftliches Promotionsstudium an der International Graduate School in Molecular Medicine der Universität Ulm, wo er sich nach seiner Promotion zum Dr. rer. nat. 2013 im Institut für Anatomie und Zellbiologie zusammen mit Prof. Dr. Tobias Böckers der Erforschung des Phelan McDermid Syndroms widmete. 2014 absolvierte er die Facharztprüfung in Anatomie und sammelte weiterhin klinisch-neurologische Erfahrung u.a. im Rahmen einer interdisziplinären Spezialambulanz für Patienten mit Phelan McDermid Syndrom am Universitätsklinikum Ulm, die von der engagierten und leider viel zu früh verstorbenen Kinder- und Jugendpsychiaterin Prof. Dr. Andrea Ludolph etabliert wurde und jetzt von den Ärzten PD Dr. Sarah Jesse, Claudia Lührs-da Silva und Michael Schön weitergeführt wird. Nach der Habilitation für Anatomie und molekulare Neurowissenschaften im April 2016 wurde Michael Schmeißer zum Professor für Neuroanatomie an die Otto-von-Guericke Universität Magdeburg berufen und zum Fellow des Leibniz Instituts für Neurobiologie in Magdeburg ernannt. Im Gedenken an Frau Prof. Dr. Ludolph widmet das Preisträgerteam ihr den Forschungspreis.
Die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen wurde im März 2006 von dem damaligen Bundespräsidenten Prof. Dr. Horst Köhler und seiner Frau gegründet. Durch die Förderung und Vernetzung von Wissenschaftlern möchte sie dazu beitragen, die medizinische Versorgung von Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu verbessern. Die Stiftung vergibt in Zusammenarbeit mit der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. jährlich einen mit 50.000 Euro dotierten Preis für wegweisende Forschung zu Ursachen und Therapiemöglichkeiten von Seltenen Erkrankungen. Mehr Infos unter www.eva-luise-und-horst-koehler-stiftung.de
Die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen ist die starke Stimme für Betroffene in Politik, Wissenschaft, Forschung und Öffentlichkeit. Dem Netzwerk gehören neben derzeit 127 Selbsthilfeorganisationen auch Freunde, Förderer, Ärzte sowie Berater aus dem Gesundheitswesen an. Eva Luise Köhler ist seit 2005 Schirmherrin der ACHSE. Mehr Infos unter www.achse-online.de
Interviews mit dem Preisträgerteam und der Stifterin sind bereits im Vorfeld möglich.
Anmeldungen zum Symposium und/ oder zur Preisverleihung nehmen wir gerne entgegen.
Sanna Börgel
+49 151 4129 7774
sanna.boergel@eva-luise-und-horst-koehler-stiftung.de