Kein Kind soll vor seinen Eltern sterben! Passiert es doch, sind Schock und Trauer groß. Im Netzwerk der ACHSE ist es leider keine Seltenheit.
Als Ruth Billers Tochter völlig unerwartet an einem plötzlichen Herztod verstarb, war sie gerade einmal 14 Jahre. 2011 war das. Ruth Biller, selbst Ärztin, begab sich damals auf Spurensuche, hartnäckig, wissbegierig – getrieben von der Frage, warum ihr vermeintlich gesundes Kind auf eine Weise sterben musste, die doch eher ältere Menschen ereilt. Oder?
In unserem Interview erzählt die heutige Vorsitzende der ARVC-Selbsthilfe e.V., von einem seltenen Gendefekt, warum sie sich für Aufklärung und Wissensvermittlung rund um ARVC einsetzt, sich politisch engagiert und wie genetische Untersuchungen Leben retten können – so wie letztlich im Fall ihrer Familie.
Arrhythmogene rechtsventrikuläre Cardiomyopathie, heute auch ACM für arrhythmogene Cardiomyopathie abgekürzt.
Ruth Biller: Zunächst einmal braucht es ein größeres Bewusstsein in der Allgemeinbevölkerung, bei Ärzten und Ärztinnen, dass es seltene genetisch bedingte Herzerkrankungen gibt, die auch bei jungen und scheinbar gesunden Menschen auftreten können. ARVC (arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie), die Erkrankung, an der meine Tochter Judith 2011 einen Monat vor ihrem 15. Geburtstag ganz plötzlich und ohne Vorwarnung verstorben ist, ist nur eine von mehreren seltenen Herzerkrankungen. Hinter unklaren Herzrhythmusstörungen, hinter einer unklaren Herzschwäche (Herzinsuffizienz), einer Herzmuskelentzündung (Myokarditis), einer plötzlichen Ohnmacht (Synkope) oder einem überlebten plötzlichen Herztod kann sich eine seltene Herzerkrankung verbergen. Immer noch wird viel zu selten eine ausführliche Familienanamnese erhoben und ein Gentest durchgeführt.
Ruth Biller: Ein Gentest kann im Zweifelsfall eine seltene Herzerkrankung diagnostisch sichern, wenn eine krankheitsverursachende Genvariante gefunden wird. Das gibt Familienmitgliedern die Möglichkeit, sich auf diese Genvariante untersuchen zu lassen. Wir erleben es immer wieder, dass sie subjektiv keinerlei Symptome haben, aber bereits deutliche Erkrankungszeichen im EKG oder MRT aufweisen. Durch den Gentest können gefährdete Angehörige identifiziert werden, die dann engmaschig kontrolliert werden müssen oder zum Schutz vor einem plötzlichen Herztod Medikamente oder bei hohem Risiko einen implantierbaren Defibrillator (ICD, „Defi“) empfohlen bekommen. Das Risiko, an einem plötzlichen Herztod zu sterben, ist nur bei undiagnostizierten Betroffenen hoch – es verringert sich durch die Diagnose extrem, da geeignete Gegenmaßnahmen und Lebensstiländerungen sich schützend auswirken. Andererseits können Angehörige, deren Gentest negativ ausfällt, aufatmen und müssen nicht mehr kardiologisch untersucht werden, weil sie (wie auch ihre Nachkommen) die Erkrankung nicht bekommen können.
Ruth Biller: Internationale Vernetzung hat für Betroffene mit seltenen Erkrankungen einen extrem hohen Wert! Patientenvertreter und -vertreterinnen lernen voneinander und profitieren von den Erfahrungen in anderen Ländern. Im ERN habe ich außerdem die Möglichkeit, Experten aus ganz Europa kennenzulernen, kann sie um Rat fragen, andererseits kann ich den Experten die ganz spezifische Patientensicht vermitteln und Anregungen zur Verbesserung der Versorgung der Betroffenen machen. Mittlerweile werde ich als Patientenvertreterin von den Experten zu Vorträgen eingeladen, nach Amsterdam, Lyon, Neapel oder Zürich. Ohne die Vernetzung im ERN wäre ich nie so weit gekommen in meiner Arbeit als Patientenvertreterin. Mein Ziel ist die Beteiligung von uns PatientenvertreterInnen an Leitlinien und Konsensuspapieren – in der Kardiologie noch keine Selbstverständlichkeit.
Ruth Biller: Am Anfang stand bei der Gründung der ARVC-Selbsthilfe der Wunsch nach Austausch mit anderen Betroffenen und das Bündeln von Informationen im Vordergrund. Mittlerweile gebe ich das weiter, was ich mir am Anfang der Diagnose in unserer Familie selbst gewünscht hätte: sofort aufgefangen zu werden in einer Gemeinschaft, die die gleichen Fragen und Probleme bewegt – und jemanden zu haben, an den ich mich mit jedem Problem wenden kann.
Die Rückmeldungen der Betroffenen geben mir unheimlich viel Kraft. Meine Hauptmotivation ist es, Fälle wie in unserer Familie, in der zwei junge Frauen (außer meiner Tochter auch noch meine Nichte) gestorben sind, zu verhindern. Ein Kind zu verlieren, das ist ein unbeschreiblicher Schmerz, und niemand sollte das durchmachen müssen!
Auch wenn ich Judith viel lieber bei mir hätte, so ist es doch tröstlich, dass ihr Tod wenigstens andere Leben retten kann. Ihr Cousin beispielsweise war symptomfrei, hatte aber Veränderungen, wegen derer er einen Defibrillator implantiert bekam. Dieser hat ihm bereits mehrfach das Leben gerettet. Ohne Judiths Tod und die genetische Testung wäre er das nächste Todesopfer in unserer Familie gewesen.
Ruth Biller: Ein wichtiges Anliegen ist mir die Aufklärung von plötzlichen Herztodesfällen durch Obduktion und genetische Untersuchung. Es ist ein Skandal, dass weder das eine noch das andere eine Kassenleistung ist, denn zynischerweise ist der oder die Verstorbene ab dem Zeitpunkt seines Todes nicht mehr versichert. Für mich völlig unverständlich, führten doch in meiner Familie eben diese (zunächst auf eigene Kosten) initiierten Untersuchungen zur Diagnose und zur Entdeckung von gefährdeten Familienangehörigen, von denen einige einen Defi haben.
Dringend benötigen wir außerdem Patientenregister, da bei seltenen Erkrankungen sinnvolle Forschung nur durch die Vereinigung der zersplitterten Datensätze an den einzelnen Unikliniken und Zentren machbar ist. Diese müssen aber unbedingt kompatibel sein mit bereits bestehenden europäischen/internationalen Registern, möglichst basierend auf dem FAIR-Prinzip (findable, accessible, interoperable, reusable). Alternativ wäre auch eine Finanzierung der Einspeisung der deutschen Daten in diese Register ausreichend, wenn diese bereits gut etabliert sind.
Die Zentren und Spezialambulanzen für seltene Erkrankungen sind chronisch unterfinanziert und personell unterbesetzt. Eine weitere Forderung ist deshalb für mich deren finanzielle Stärkung und die Sicherung des Nachwuchses im ärztlichen Bereich mit spezieller Expertise für die Seltenen.
Das Gespräch haben wir schon im Sommer 2024 geführt. Wir danken Ruth Biller sehr für dieses Interview.