Wenn plötzlich alles zerplatzt, wie eine Seifenblase
Ich bin Sonja Böckmann, eine rheinische Frohnatur, die 1996 nach Hessen verzogen ist. Heute bin ich Buchautorin sowie die Gründerin des Netzwerks "Diagnose ungewiss". Früher war ich neben meinem Vollzeitjob, der weit über 40 Stunden die Woche hinausging, als Weddingplanerin im Freundeskreis aktiv. Mein Herz gehört der Musik – ich spiele selbst verschiedene Instrumente, hatte im Laufe der Jahre einen Kinderchor gegründet, die Vertretung in der Orchesterleitung übernommen und fast ein Jahr als Vize-Dirigentin im Grabchor mitgeholfen. Mit Menschen aller Altersklassen zu arbeiten und musikalisch etwas zu bewegen hat mir unheimlich viel Spaß gemacht. Jeder zog jeden mit, wurde in die Gruppe integriert und setzte sich mit ganzem Herzen für die Sache ein.
Und dann, von einer Minute auf die andere, änderte sich alles. Morgens, auf dem Weg zur Arbeit, hatte ich einen Autounfall, der mein Leben und das meines Mannes komplett aus der Bahn warf. Meine Arbeit mit der Musik musste ich bereits zwei Jahre vor meinem lebensverändernden Autounfall aufgeben. Sobald ich beim Dirigieren die Arme hochhob, wurde mir schwindelig. Und wenn ich die Solistin an der Orgel oder z. B. dem Xylophon begleiten sollte, funktionierte das nicht mehr. Entweder spielten die Augen verrückt oder meine Konzentration ließ nach und ich war nicht mehr im Takt. Inzwischen weiß ich, dass dies die ersten Symptome meiner Erkrankung waren. Diese ist durch den Autounfall erst richtig durchgebrochen. Doch damals war für mich alles nicht nachvollziehbar und sehr schlimm.
 
Meine Diagnose und der Weg dorthin
Diagnosen gibt es inzwischen zum einen die Großbaustelle Syringomyelie und zum anderen die Endometriose. Beide Erkrankungen sieht man einem nicht an, doch sie sind tägliche Begleiter, wie ein unliebsamer Zeitgenosse.

Der Weg zur Diagnose war ein Höllenritt. Nach meinem Autounfall merkte ich, dass mit meinem Körper längst etwas nicht stimmte. Nach einigen Arztbesuchen und etlichen verschiedenen Diagnosen wurde immer klarer, dass man mich und meine Erkrankung nicht einfach so diagnostizieren konnte. Meine Odyssee begann: ich wanderte von Arzt zu Arzt zu Gutachter und das alles immer wieder von vorne. Ein unglaublicher Kraftakt. Bis zum Ausbruch der Erkrankung war mein Motto stets: „Geht nicht gibt's nicht!". Doch nun gab es "geht nicht" eben doch – Hilfe!
 
Bei dem Versuch meine Beschwerden verständlich zu schildern, kam ich mir oft vor wie von einem anderen Stern – keiner hatte Antworten. Es war schwer Verständnis und Hilfe zu bekommen, egal ob von Krankenkassen, konsultierten Ärzten, Behörden, Versicherungen oder Gutachtern. Auch mein engeres Umfeld reagierte oft mit Unverständnis. Viele Fragen wurden gestellt und mein Mann wurde häufig mit bedauernden Blicken bedacht, denn er konnte diese ebenso wenig beantworten wie ich oder die Ärzte. Die wildesten Vermutungen kursierten im Bekannten- und Freundeskreis, sodass wir diesen stark eingrenzten und teilweise Kontakte abbrachen.
 
Schnell hat sich herauskristallisiert, wer wahre Freunde sind und auf wen man zählen kann. So habe ich einen wichtigen Freund aus der Finanzwelt gewonnen, der uns freundschaftlich in der Papierflut der Behörden zur Seite stand, uns bei der finanziellen Neuausrichtung unterstützte und sowohl mir als auch dem ganzen Netzwerk von „Diagnose ungewiss" bis heute als wichtiger Ansprechpartner zur Verfügung steht. So ein Mensch mit viel Herz und Sinn für Zahlen ist für uns als Betroffene der Hauptgewinn.
 
Oft wurde ich nicht ernst genommen und als "Psycho" abgestempelt
Für mich ist es wichtig, Betroffene in ihrer Situation nicht alleine zu lassen. Von jetzt auf gleich zerplatzt das bisherige Leben wie eine Seifenblase – alles ist anders und komplett neu. Oft zieht sich das angeblich stabile Umfeld zurück und man steht alleine völlig überfordert mit der neuen Situation da. Man muss Informationen zu diesem neuen Krankheitsalltag zusammensuchen, Vertrauenspersonen und Ärzte finden, die einen ernst nehmen und nicht als „Psycho" abstempeln und lernen mit der neuen Situation klarzukommen. Das überfordert einen schon sehr. Da ist man froh, wenn einem einfach mal einer zuhört, Fragen beantworten oder Denkanstöße im Sinne der Selbsthilfe geben kann. Gerade Gespräche und Begegnungen mit anderen Betroffenen können immer wieder sehr lehrreich und bereichernd für den eigenen Alltag sein. Dieser Betroffenenaustausch ist auch für die Angehörigen unglaublich wichtig, denn auch für sie ist der Umgang mit der neuen Situation nicht immer leicht. In der Regel sind Menschen mit einer Seltenen Erkrankung aber ohne Diagnose in einer Art Notlage. Meiner Erfahrung nach, fällt es gesunden Menschen eher schwer, sich auf Menschen mit Einschränkungen einzulassen – da macht aber jeder unterschiedliche Erfahrungen.
 
Meine Hausärztin, die mich schon seit 10 Jahren behandelte, war damals die einzige, die erkannte, dass bei mir körperlich etwas nicht stimmt. Vor dem Autounfall war ich nur ab und zu zur Untersuchung oder Überweisung ins Krankenhaus aufgrund der Endometriose bei ihr. Auf der Suche nach einer Erklärung für meine Symptome kam ich nach dem Unfall immer öfter in ihre Praxis.
 
Alte Hobbies musste ich aufgeben – Neue für mich finden
Viele Hobbies wie Lesen, Fahrradfahren, ins Kino gehen oder musikalischen Experimenten nachgehen musste ich aufgeben. Die Suche nach neuen Hobbies gestaltete sich schwer. In den ersten Jahren nach meinem Autounfall war ich zu gar nichts fähig. Doch ich hatte in die Küche einen Notizblock gelegt, auf dem ich Ideen für Hobbies sammelte, die ich ausprobieren wollte, sobald mein Gesundheitszustand es zuließe.
Heute bin ich gesundheitlich wieder ein wenig stabiler. Natürlich ist jeder Tag anders, aber solange ich mich an meine Alltagsstruktur halte, kann es ein schöner Tag werden. Meine Leidenschaft gehört nun kurzweiligeren Dingen, wie z. B. dem Marmeladekochen. Hier hat man viel Spielraum zum Experimentieren und gleichzeitig immer ein kleines Geschenk parat. Eine weitere Leidenschaft sind meine zwei Kater.
 
Wenn der Alltag zur Herausforderung wird
Die Herausforderungen im Alltag sind jeden Tag unterschiedlich. Oft fällt es schwer aufzustehen und in den Tag zu starten. Ist dies gelungen, kämpft man mit alltäglichen Problemen wie dem Einkaufen gehen: Wer hilft mir, die Taschen zu tragen und wer könnte mich fahren? Zuhause sind es die vielen körperlichen Kleinigkeiten, vom Aufheben heruntergefallener Sachen bis zum Öffnen von Gefäßen, die einem den Alltag erschweren.
Ein weiteres – durch Corona auch sehr akutes – Problem ist die Blaseninkontinenz. Außerhalb der Wohnung steht man ständig unter Zeitdruck. Gerade in der Pandemie lassen einen die Geschäfte und Apotheken trotz gezücktem Schwerbehindertenausweis nicht mehr auf ihre Kundentoiletten. Das setzt einen enorm unter Druck. Steht man dann noch in langen Schlangen an der Kasse, wird es oft knapp „unfallfrei" nach Hause zu kommen.
 
Normales Sitzen führt zu Schwindel und Brechreiz
Eine große Herausforderung ist ebenfalls das Thema „Sitzen in der Öffentlichkeit" – auf einer handelsüblichen Sitzgelegenheit ist es mir nicht möglich mich hinzusetzen. Eine Physiotherapeutin hat mir mal erklärt, dass das an der Position des Beckens liegt. Sobald ich in die Sitzposition gehe, wird der Rückenmarkskanal abgeklemmt und löst bei mir Beschwerden wie Schwindel, Brechreiz und Konzentrationsprobleme aus. Wenn ich also nicht den für mich angepassten Stuhl dabeihabe – bin ich alleine unterwegs, kann ich diesen nicht mitnehmen – bleibt mir nur die Option in L-Position auf dem Boden Platz zu nehmen. Das löst bei meinem Gegenüber nicht selten Unverständnis und Verwunderung aus, ist für mich aber die einzig mögliche, angenehme Position.
 
Es war für mich ein langer Lernprozess, bis ich mich traute, meine gesundheitlichen Bedürfnisse kund zu tun und mich auch mal in einem vollen Wartezimmer auf den Fußboden zu setzten. Dafür werde ich meistens recht schnell zum Arzt gerufen – wer hat schon gerne Patienten auf dem Fußboden sitzen.
 
Haushaltshilfen sind rar – Putzhilfen teuer
Da die neue Arbeitsstelle meines Mannes nicht direkt bei uns um die Ecke ist, bin ich unter der Woche allein zuhause. Auch, wenn wir unsere Küche meinen Bedürfnissen angepasst haben, kann ich den Haushalt nicht mehr alleine stemmen. In meiner Region sind Putzhilfen aber sehr rar. Manche Firmen arbeiten mit den Pflegediensten zusammen – die erschreckend hohen Preise sind für mich als Betroffene nicht leistbar und Corona macht die Suche nicht gerade leichter.
 
Verständnisvolle Gemeinschaft durch Vernetzung
Menschen, die selbst eine Seltene Erkrankung und die Odyssee der Diagnosefindung hinter sich haben, begegnen sich mit einem ganz anderen Verständnis. Vernetzung ist daher sehr wichtig und bringt uns wieder mehr soziale Kontakte. Häufig höre ich von Vereinsamung, sozialem Rückzug – bei einigen Betroffenen kehrt so eine starke Gleichgültigkeit ein, dass sie sich nicht mehr selbst umsorgen und pflegen. Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir die große Gemeinschaft der Seltenen.
 
Meine Wünsche für die Zukunft
Mein Wunsch ist, dass die Selbsthilfe eine Selbstverständlichkeit wird, bei der die gemeinsamen Ziele immer an erster Stelle stehen und in der jeder Betroffene er selbst sein darf und so akzeptiert wird. Auf behördlicher Ebene wünsche ich mir, dass man ernstgenommen wird und trotz vorhandener ärztlicher Unterlagen, die den Gesundheitszustand beschreiben, nicht in mehreren Anläufen um den Pflegegrad, die Schwerbehinderung, Reha oder eine Verordnung für Hilfsmittel kämpfen muss.

Bei einer Syringomyelie, einer Seltenen Erkrankung im Rückenmarkskanal, befindet sich in der grauen Substanz des Rückenmarks ein meist länglicher, mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum, der die graue Substanz verdrängt und keine Nervenzellen enthält.

Der Verlauf einer Syringomyelie variiert hinsichtlich der Intensität der einzelnen vielfältigen Beschwerden. Aufgrund der Vielfältigkeit der Symptome und der Unbekanntheit der Erkrankung werden Betroffene nicht selten als „Simulanten" eingestuft. Sonja Böckmann kann keine Berührungen ertragen, die Muskeln sind geschwächt, sie hat Lähmungen oder Krämpfe, sobald sich Flüssigkeit an der Wirbelsäule staut.

Auf ihrem Weg zur Diagnose hat sie das Netzwerk "Diagnose ungewiss" gegründet, um anderen betroffenen Menschen zu helfen. Sonja Böckmann ist Buchautorin und aktiv in der Selbsthilfe. Sie startet Umfragen, gibt Interviews und nimmt sich unterschiedlicher Projekte an. 

Weitere Informationen zu "Diagnose ungewiss" finden Sie hier:

www.diagnose-ungewiss.com

 

Die Syringomyelie ist grundsätzlich die Folge einer anderen Störung. Häufig ist es eine Chiari Malformation, die schon im Fötus angelegt sein kann. Bei einer Chiari Malformation kommt es zu einer knöchernen Fehlbildung des Schädelrandes und des ersten Halswirbels.

Durch diese knöchernen Veränderungen findet sich unter der Schädeldecke nicht genügend Platz für Teile des Kleinhirns, der Kleinhirntonsillen, die sich daher einen neuen Platz im Übergang zwischen Schädel und Wirbelsäule suchen und in den Rückenmarkskanal hineindrängen.

Diese stören den Liquorfluss zwischen Hirn und Rückenmark, was zu der Fehlentwicklung einer Syringomyelie führt. Aber auch Unfälle, Tumore und andere Erkrankungen können eine Syringomyelie auslösen. Diese Ursachen können teilweise behoben werden, zum Beispiel durch eine Öffnung des Verschlusses bei der Chiari Malformation, aber die Syringomyelie verschwindet nicht komplett und auch die Beschwerden können teilweise oder weitgehend bestehen bleiben.

Mehr Informationen, Ansprechpartner und Hilfe finden Sie auf: 

www.dscm-ev.de

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